Manifest zum Tonfilm

 

Im Manifest zum Tonfilm, das 1928 in der Zeitschrift Shisn Iskusstwo (Leben der Kunst) veröffentlicht wurde, äußern sich die Filmtheoretiker Sergej M. Eisenstein, Wsewolod I. Pudowkin und Grigorij W. Alexandrow darüber, wie mit dieser technischen Entdeckung umgegangen werden solle.

Sie sind der Auffassung, dass der Tonfilm einen „orchestralen Kontrapunkt visueller und akustischer Bilder“ erzeugen müsse. Sie fordern daher, dass die erste experimentelle Arbeit mit dem Ton eine „deutliche Asynchronisation mit den visuellen Bildern“ aufweist.

Die drei Autoren kritisieren zunächst die Handhabung des Tonfilms im amerikanischen Mainstreamfilm, bei dem die wenigen montierten Geräusche sich ausschließlich auf Elemente beziehen, die auch im Bild zu sehen sind. Der Ton wird hier naturalistisch verwendet, um die Illusion sprechender Menschen oder hörbarer Objekte zu erzielen.

Darauf bezogen äußern die Autoren die Befürchtung, dass ein solcher Umgang die weitere Entwicklung des Films als Kunstform nicht nur behindert, sondern auch seine „gegenwärtigen formalen Leistungen“ – vor allem die Montagekultur – gefährdet. Jegliche Übereinstimmung zwischen Ton und dem Montagbestandteil wird als Beschädigung dieses Stückes angesehen, weil es dann von seiner Bedeutung gelöst wird. Wenn der Ton also dasselbe oder das gleiche aussagt wie das Bild, wozu benötigt man dann den Ton? In dieser Verwendungsart gibt er keine (oder zumindest nur
wenige) neuen Informationen. Ton und Bild müssen also unterschiedliche Bedeutung haben, aus denen sich eine Synthese bildet. Aus denen etwas Neues entsteht.

Allerdings werden Synchronisationspunkte zwischen Schnitten in der Montage und Klängen im Ton durchaus als stimmig bzw. harmonisch empfunden. Aus dem Text geht allerdings hervor, dass bei ersten Experimenten nur durch eine kontrapunktische Verwendung des Tons Fortschritt erlangt werden kann. Man muss also erstmal von dem Offensichtlichsten wegkommen, um innovativ zu sein.

Der Tonfilm wird aber auch als ein Mittel zur Lösung von bisherigen Problemen geschätzt. Zwischentitel sind beispielsweise immer schwer in die Montagekomposition zu integrieren. Der Zuschauer wird zum einen von einer Texttafel aus dem Geschehen gerissen und zum anderen ist die
Betonung der Sprache nur schwer nachzuempfinden. Dies wurde zwar mittels Groß- und Kleinschreibung, sowie Wiederholungen versucht, dennoch ergibt sich daraus nicht dieselbe Wirkung. Des Weiteren können erläuternde Passagen, die nur für das Verständnis des Zuschauers
gedacht sind, nun über die Tonspur vermittelt werden und belasten somit nicht mehr die Montagekomposition und deren Tempo.

Die Verfasser des Manifests sagen, dass der Ton künftig „gewaltige Möglichkeiten zum Ausdruck und zur Lösung der kompliziertesten Aufgaben“ bietet. Hierbei kommt einem die Leitmotivik Richard Wagners in den Sinn, bei der meist eine kürzere, charakteristische Tonfolge wiederkehrt und
assoziativ ein bestimmtes Element des Stücks – beispielsweise eine Person, eine Idee oder einen Gegenstand – symbolisiert.

Hierfür ein kurzes filmisches Beispiel:
In einer Szene küsst ein Mann eine blonde Frau. Dabei ertönt aber das Leitmotiv einer anderen (brünetten) Frau. Wenn die Leitmotive gut eingeführt und konsequent durchgehalten werden, weiß der Zuschauer hier sofort, dass der Mann an die brünette Frau denkt (während er die Blonde küsst).

Des Weiteren lassen sich Subjektivierungen und Traumdarstellungen sehr gut mit Hilfe der Tonspur verdeutlichen. Die filmische Großaufnahme eines Protagonisten bleibt beispielsweise realistisch bzw. naturalistisch, aber der Ton verzerrt sich, ist gedämpft und verschwimmt. Sofort ist klar, dass es
sich bei dieser Verfremdung der Wirklichkeit um eine bestimmte Empfindung der gezeigten Person handelt. Es ist also möglich abstrakte Begriffe wie Gefühle und Gedanken verständlich zu machen. Ebenso hat sich das Voice-over zu einem beliebten Mittel entwickelt, um einen Einblick in das Innenleben und die Gedankenwelt eines Protagonisten zu vermitteln. Man ist also nicht mehr auf die Assoziationsmontage angewiesen. Es gibt nun weitere Optionen und vor allem die Möglichkeit zur Kombination all dieser Elemente.

Auch wenn den Verfassern des Manifests zu ihrer Zeit solche Mittel noch nicht bekannt sind, ahnen sie die vielfachen Verwendungsmöglichkeiten des Tons voraus. Deshalb wird auch eine rasche weltweite Verbreitung des Tonfilms vermutet. Besonders in Abgrenzung zum bloßen Abfilmen von Dramen,
welches eher in die Richtung der Bildreportage geht, bei der es auf die besonders gute Rekonstruktion eines Geschehnisses ankommt.

Aus heutiger Sicht würde man jedoch einen Stummfilm – aufgrund seiner geringeren Sprachbarrieren – eher als tauglich für den Weltmarkt ansehen. Da die gegenwärtigen Spielfilme sehr dialoglastig sind, ist ein weltweites Verständnis nur noch mittels Übersetzung möglich. Dies verhindert aber
dennoch nicht die internationale Publizierung und Beliebtheit von anderssprachigen Filmen.

Dennoch werden durch die Synthese zweier Kunstformen – Film und Ton bzw. Musik – mit Sicherheit mehr Leute angesprochen und interessiert. Nicht nur visuell geprägte Menschen, sondern auch solche, die sich eher mit Sprache oder Musik identifizieren können, werden sich Filme ansehen.
Der Film bedient somit ein breiteres Publikum und wird populärer.

 

 

Der Originaltext kann hier gefunden werden: Medien Kunst Netz bzw hier Svoigt.net

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